Die Industrie ist wichtig für Wohlstand und Zusammenhalt in Deutschland – die Energie- und Klimapolitik muss darauf wieder Rücksicht nehmen. Ohne bezahlbare Energie, ohne faire CO₂-Regeln und ohne europäische Koordinierung droht der Klimaschutz in Deutschland zum Deindustrialisierungsprogramm zu werden.
Die Lage der deutschen Industrie ist dramatisch. Ob sie nun tatsächlich schon im freien Fall ist oder erst auf einer sehr schiefen Ebene: So, wie es jetzt läuft, darf es auf keinen Fall weitergehen mit dem Verlust von Unternehmen und Arbeitsplätzen. Ja, es stimmt, die Bundesregierung tut bereits einiges, um Wirtschaft und Industrie zu entlasten. Wir müssen aber feststellen, dass diese Unterstützung angesichts der Dramatik der Situation nicht ausreichen wird, um die historisch bespiellose Deindustrialisierung zu stoppen.
Stille Krise des industriellen Mittelstandes
Beinahe täglich hören wir aus unserem „Bündnis faire Energiewende“ (BfE) – hier sprechen neun Branchenverbände der mittelständisch geprägten energieintensiven Industrie, die zusammen mehr als 10.000 Unternehmen mit mehr als einer Million Beschäftigten vertreten, mit einer gemeinsamen Stimme – dramatische Geschichten von Betriebsschließungen und Stellenstreichungen. Oft handelt es sich um kleinere oder mittlere Unternehmen, die aber für die jeweilige Region Wohlstand und Identität schaffen. In der Summe geht es hier um hunderttausende wertvolle Arbeitsplätze, deren Verlust aber – im Gegensatz zu Entlassungen bei Großkonzernen – nur regional für die nötige Aufmerksamkeit sorgt.
Energiewende braucht Effizienz statt Kostenverlagerung
Es ist für die Politik bereits fünf nach Zwölf, um endlich fundamentale und strukturelle Reformen für unser Land auf den Weg zu bringen. Dabei geht es nicht nur um den Erhalt von Arbeitsplätzen, sondern auch darum, den Sozialstaat, wie wir ihn seit Jahrzehnten kennen, im Kern zu erhalten.
„Fundamentale und strukturelle Reformen der Energiewende sind notwendig.“
Die Kosten der Energiewende müssen dringend durch mehr Effizienz gesenkt werden. Es reicht nicht aus, die Kosten anstatt wie bisher über den Strompreis, nunmehr über den Bundeshaushalt zu finanzieren. Die Grenze der Belastungsfähigkeit der Gesellschaft mit den Kosten der Energiewende ist erreicht und teilweise schon überschritten. „Ja, Klimaschutz ist richtig und wichtig, aber das Klimaproblem kann nur dann gelöst werden, wenn die ganze Welt dabei mitmacht“, sagt Michael Engelhardt, der beim Gesamtverband Textil und Mode in Berlin für die Energie- und Klimapolitik zuständig ist. „Wenn alle ihren Beitrag leisten, sind die Unternehmen in Deutschland auch bereit, im Klimaschutz voranzugehen.“
Klimaschutz kann nur mit einer weltweiten Anstrengung gelingen
Derzeit sind wir allerdings in Deutschland bereits auf dem Weg, Klimaschutz durch Abbau unserer Industrie zu betreiben. Dieses Vorgehen ist – wie wir erneut bei der diesjährigen Klimakonferenz in Brasilien gesehen haben – kein Vorbild für die Welt, führt aber bei uns zu einer sozialen und demokratischen Krise ungeahnten Ausmaßes. Das deutsche Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ist ein nationaler Alleingang und Sonderweg. Er führt unter dem europäischen CO2-Gesamtdeckel nicht zu zusätzlichen CO2-Minderungen, sondern nur dazu, dass Deutschland einen größeren Anteil der Lasten zur Erreichung des EU-Klimaziels tragen muss.
„Dem weltweiten Klimaschutz nutzt der deutsche Alleingang nichts.“
Angesichts der Deindustrialisierung, die in Deutschland stattfindet, und der andauernden Wirtschaftsschwäche muss dieses nationale Sonderziel deshalb aufgegeben werden und Deutschland muss zum gemeinsamen europäischen Zielkorridor einer Klimaneutralität bis 2050 zurückkehren.
CO₂-Bepreisung als Belastungsfaktor für Prozesswärme
Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die Aussetzung des rein nationalen Brennstoffemissionshandels, der die für die Unternehmen unbedingt notwendige Prozesswärme deutlich teurer und international nicht mehr wettbewerbsfähig macht. Dies muss mindestens so lange gelten, bis der gemeinsame europäische Emissionshandel-2 zusammen mit einem wirksamen Carbon-Leakage-Schutz in Kraft getreten ist. Erst dann gibt es wieder ein einigermaßen erträgliches Level-Playing-Field – zumindest innerhalb der EU.
Elektrifizierung scheitert an Netzen und Strompreisen
Auch im Strombereich reichen die bisherigen Anstrengungen der Politik noch nicht aus. Die Industrie soll nach dem Willen der Politik vor allem dadurch klimaneutral werden, dass sie ihre Prozesse möglichst weitgehend von fossilen Energien auf Strom umstellt. Das geht aber nur, wenn die Unternehmen überhaupt einen ausreichend dimensionierten Stromanschluss zu einem bezahlbaren Preis bekommen und wenn der Strompreis in Deutschland international wettbewerbsfähig ist.
„Für die geforderte Elektrifizierung benötigen die Unternehmen ausreichende Netzzugänge und wettbewerbsfähige Strompreise.“
Es ist gut, dass die weitgehende Entlastung der Industrie bei der Stromsteuer fortgeschrieben wird und dass es Entlastungen bei den Stromnetzentgelten und bei der Gasspeicherumlage gibt. Dies alles sind richtige Schritte, die die Unternehmen aber noch nicht auf ein vergleichbares Kostenniveau beispielsweise mit den USA oder China bringen. Weitere Maßnahmen wie ein Industriestrompreis und Entlastungen bei den Netzentgelten sind daher notwendig.
Industriestrompreis und Netzentgelte: offene Baustellen
„Der geplante Industriestrompreis muss so ausgestaltet werden, dass er den betroffenen Branchen auch wirklich hilft und nicht durch bürokratische Einschränkungen konterkariert wird“, so Michael Engelhardt. „Außerdem besteht bei den Stromnetzentgelten weiter ein erheblicher Entlastungsbedarf für die Wirtschaft, der in Zukunft noch deutlich zunehmen wird.“

Bild: Gesamtverbadn textil+mode
Michael Engelhardt leitet das Referat Energie-,Klima- & Umweltpolitik beim Gesamtverband textil+mode in Berlin..
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