Mit der politischen Einigung von Rat und Europäischem Parlament vom 1. Dezember 2025 steht das neue Allgemeine Präferenzsystem für Entwicklungsländer (APS) der EU ab 2027 im Kern fest. Die Reform schärft die Konditionalität, fokussiert Präferenzen stärker auf die ärmsten Länder und verschärft zugleich die Schutzmechanismen gegenüber sehr wettbewerbsstarken Lieferanten – insbesondere im Textil- und Bekleidungssektor.
Das APS behält seine drei Stufen – Standard-APS, APS+ und EBA („Everything but Arms“) – bei, wird jedoch politisch enger gefasst. Künftig gelten:
- Mehr Konditionalität: Verstöße gegen Menschenrechte, Umwelt- und Arbeitnehmerstandards können rascher zum Entzug von Präferenzen führen, inklusive Dringlichkeitsverfahren.
- Klimafokus: Klimaschutz- und Umweltabkommen werden zentraler Bestandteil des Bewertungssystems.
- Migration: Fehlende Kooperation bei Rückübernahme eigener Staatsbürger kann zur Aussetzung von Vorteilen führen.
- Neue Schutzinstrumente: Neben einer neuen Reisregelung führt die EU spezielle Schutzklauseln für Textilien und Ethanol ein.
Die Verordnung soll ab 1. Januar 2027 gelten.
Graduierung: Ab 2027 früher und häufiger
Das APS stuft einzelne Sektoren aus der Präferenzbehandlung aus, wenn ein Land im betreffenden Bereich „zu erfolgreich“ wird. Die Graduierungsschwelle – Anteil eines APS-Landes an allen APS-Einfuhren der EU in einem Sektor – wird um 10 Prozentpunkte gesenkt. Ob künftig für alle Sektoren eine gemeinsame Schwelle gilt, oder ob die allgemeine und die – bereits deutlich strengere – textilspezifische Schwelle dann auf denselben Wert (47 %) gesenkt werden, oder ob für den Textil- und Bekleidungssektor eine separate Senkung vorgenommen wird, ist derzeit noch nicht klar.
- Senkung der allgemeinen Graduierungsschwelle: Von bisher 57 % auf 47 %.
- Senkung der Schwelle im Textil- und Bekleidungssektor: Von bisher 47,2 % auf evtl. 37,2 % (noch unsicher).
In jedem Fall rückt die Schwelle für den Verlust von Zollvorteilen näher: Selbst wenn ein Land APS- oder APS+-fähig bleibt, kann der Textilsektor separat graduieren – mit sofortiger Wiedereinführung von Drittlandszöllen. Auch heute gibt es schon sektorale Graduierungen: So ist Indien bereits seit Jahren von den Präferenzen für Textilien ausgeschlossen. Wichtig ist hierbei auch, dass für den Textil- und den Bekleidungssektor eine gesonderte Betrachtung erfolgt.
Neue Schutzklausel für Textilien
Unabhängig von der formellen Graduierung kann die EU künftig MFN-Zölle vorübergehend wieder einsetzen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:
- ein APS-Land erreicht mindestens 6 % der gesamten EU-Importe eines Textilprodukts und
- zugleich 47 % der entsprechenden APS-Importe.
Damit entsteht ein zweiter, schnellerer Interventionsmechanismus – ein „Frühwarnsystem“ gegen Importanstiege in besonders sensiblen Bereichen.
Aufsteiger aus der LDC-Kategorie: Der Fall Bangladesch
Bangladesch verliert Ende 2026 voraussichtlich seinen LDC-Status. Die EU will einen Bruch zwischen EBA und APS vermeiden und ermöglicht LDC-Aufsteigern einen Wechsel in das APS+ Regime, sofern sie die erweiterten Nachhaltigkeitskriterien erfüllen.
Für Bangladesch bedeutet das:
- APS+ kann den Übergang mildern – nicht aber die sektorspezifische Graduierung verhindern.
- Im Textil- und Bekleidungssektor ist das Land heute bereits nahe oder über den neuen Schwellen.
- Bei einem früheren Verlust der Präferenzen droht die Wiedereinführung signifikanter MFN-Zölle, was Kalkulationen europäischer Importeure spürbar belasten würde.
Pakistan APS+: Chancen und Risiken
Pakistan ist eines der größten Textillieferländer im APS+-Regime. Die Reform bedeutet:
- Erhöhtes Graduierungsrisiko im Textilsektor: Mit Marktanteilen, die nahe an den alten Schwellen lagen, rückt die neue Graduierungsschwelle deutlich näher.
- Sensibilität gegenüber der Schutzklausel: Bei abrupten Mengenanstiegen könnte die EU schneller intervenieren.
- Höhere Governance-Anforderungen: Das erweiterte Konditionalitätspaket übt zusätzlichen Druck auf Arbeitnehmer- und Menschenrechtsbereich aus.
Für Unternehmen bedeutet das: Pakistan bleibt attraktiv, doch mittelfristig steigen Zollrisiko und Compliance-Kosten.
Usbekistan APS+: Aufsteiger unter Beobachtung
Usbekistan hat sich in den vergangenen Jahren zu einem dynamisch wachsenden Textillieferanten entwickelt und profitiert vom APS+. Die Reform wirkt in zwei Richtungen:
- Chance: Im Vergleich zu den großen Exportnationen ist Usbekistan noch weit von den Graduierungsschwellen entfernt. Das Land bleibt ein wachsender, risikoärmerer Beschaffungsmarkt.
- Risiko: Mit steigenden Investitionen und wachsenden EU-Importen kann Usbekistan mittelfristig ebenfalls in den Fokus der Schutzklausel rücken. Die verpflichtenden Arbeits- und Menschenrechtsstandards gewinnen durch die Reform zusätzlich an Relevanz.
Für europäische Abnehmer eröffnet Usbekistan eine wichtige und vergleichsweise „zollsichere“ Diversifizierungsoption.
Gesamtbild für die Textil- und Bekleidungsbranche
Die Reform erfolgt in einem Umfeld globaler Überkapazitäten, verstärkter Handelsumlenkungen und geopolitischer Spannungen. Die EU reagiert mit einer Reihe koordinierter Instrumente – Zwangsarbeitsverordnung, Heat-Map-Monitoring, neue Schutzmechanismen und nun ein schärferes APS. Für Textil und Bekleidung bedeutet das:
- Erhöhtes Sourcing-Risiko
Hohe Abhängigkeiten von einem oder zwei APS-Ländern werden riskanter. Insbesondere Bangladesch und Pakistan könnten früher graduieren oder in Schutzverfahren geraten. - Wachsende Bedeutung alternativer Standorte
Märkte wie Türkei, Marokko, Jordanien, Georgien, Moldau, aber auch potenzielle FTA-Partner wie Indien oder die ASEAN-Staaten gewinnen strategisch an Gewicht. - Steigende Compliance-Anforderungen
Unternehmen müssen Nachhaltigkeit, Arbeitsrechte und Lieferkettentransparenz umfassender dokumentieren als bisher.
Handlungsempfehlungen
- Sourcing-Portfolios überprüfen: Graduierungsrisiken in Textil/Bekleidung quantifizieren; Alternativmärkte aktiv aufbauen.
- Bangladesch- und Pakistan-Strategien anpassen: Lieferanten im Hinblick auf APS+-Anforderungen und soziale Standards eng begleiten.
- Usbekistan als Diversifizierungsbaustein prüfen, Wachstum monitoren.
- Frühwarnsysteme nutzen: Die EU-Heat-Map und Branchenanalysen von Gesamtmasche helfen, kritische Entwicklungen frühzeitig zu erkennen.
Fazit
Das neue APS macht die EU-Handelspolitik gezielter, politischer und reaktiver. Für die Textil- und Bekleidungsbranche entstehen dadurch frühere Graduierungsrisiken, höhere regulatorische Anforderungen und die Notwendigkeit robusterer Sourcing-Strategien. Insbesondere Bangladesch, Pakistan und – mit wachsender Bedeutung – Usbekistan stehen im Fokus. Unternehmen sollten die Reform nicht abwarten, sondern die Weichen für 2027 schon jetzt stellen.
Kontakt: Silvia Jungbauer, jungbauer@gesamtmasche.de
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